Kurzgefaßt, in diesem Artikel beschreibe ich meinen Eindruck daß im Kern der meisten Themen Angst vor Verlassenheit und Zurückweisung steht. Vielleicht dient dieser Text einigen Menschen dazu schneller an des Pudels Kern vorzudringen. Sogar Tendenzen zu Grausamkeit (auch in zwanghaften Gedanken) können auf diese Art in ihrem eigentlichen Kern erkannt werden als eine Möglichkeit keine Herzensnähe zuzulassen. Damit schützt Grausamkeit davor selber wieder verletzt zu werden. Grausamkeit, Kälte, Gefühllosigkeit, was oft als "starke" Menschen (Männer oder Frauen) mißverstanden wird ist grundlegend ein Schutzmechanismus dagegen die eigene Verlassenheit und Zurückweisung wahrzunehmen.
Eine wunderbare Art auf den Hintergrund eines Gedankens oder eines Gefühls zu kommen habe ich von Teal Swan übernommen (danke!). Sie rät bei (negativ empfundenen) Gedanken die Frage zu stellen:
Wovor möchte mich dieser Gedanke oder diese Emotion schützen?
In der Arbeit mit Menschen erlebe ich ich recht unterschiedliche Arten von Verletzungen. Wie viele andere empfinde dabei auch ich gewisse Themen wie ein Zwiebel. Das heißt man trägt Schicht um Schicht ab, und jedes Mal wenn sich das Thema wieder zeigt ist es in einem etwas anderen Kontext, etwas anders konnotiert sozusagen, aber im Wesenskern eng verwandt. Verschiedene Schulen interpretieren diesen Umstand etwas unterschiedlich. Wichtig ist aber letztlich daß sich diese Verletzungen letztendes irgendwann schließen können wenn man immer wieder hinsieht. Was sich mir in letzter Zeit aber recht deutlich darstellt ist daß es eine übergeordnete Thematik gibt die im Kern vermutlich alle anderen Themen beinhaltet und auf diese zurückzuführen ist. Das ist die Angst vor der Zurückweisung als ursprüngliche Angst.
In der Cranio habe ich von der Wahrnehmung gehört nicht angenommen zu werden wie man ist (in unserem Sein) sei die grundlegende Verletzung, beziehungsweise die Angst das wieder zu erleben die grundlegende Angst. Im Vesseling habe ich gelernt die grundlegende Verletzung (oder auch Illusion) sei die empfundene Trennung. Im eher spirituellen Kontext die Trennung vom nicht-manifesten, wenn man so möchte von Gott. Im eher entwicklungspsychologischen (oder entwicklungsbiologischen) Sinn entsprechend der Cranio kann man dort auch eine traumatische Situation in der Entstehung des Menschen sehen als er sich seines separaten Lebens, also als separater Mensch bewußt wurde. Der entscheidende Teil ist aber wie viele menschliche Verhaltensmuster und Verletzungen letztlich auf die Vermeidung dieser Empfindung zurückführbar sind. Man mag darin immer neue Themen sehen, oder aber immer neue Verletzungen die Aufgrund der ursächlichen Wunde entstehen, oder Situationen die einfach deswegen als verletzend wahrgenommen werden weil man diese Verletzung schon trägt.
Wichtig ist natürlich auch, dass der Mensch ein fundamental soziales Lebewesen ist. Sogar extreme Einzelgänger sind für ihr Überleben früher oder später von Leistungen einer Gemeinschaft abhängig. Es ist eine unserer grundlegenden Eigenschaften. Zurückweisung hat damit auch auf biologischer Ebene etwas grundlegend und existentiell bedrohliches an sich, umso mehr für Säuglinge und Kinder die sehr direkt für ihr Überleben von der Zuwendung anderer Menschen abhängig sind.
Trotzdem gibt es natürlich unterschiedliche gefühlte und reale Bedrohungen in der Welt die themengebend sein können. Wie sehr menschliche Verletzungen aber auf Zurückweisungen zurückführbar sein können möchte ich an ein paar Beispielen zeigen:
Sucht nach Erfolg
Suche (oder Sucht) nach Erfolg im Beruf oder in Beziehungen. In diesem Fall ist es vermutlich am offensichtlichtsten. Zuspruch andere Menschen überdeckt das grundlegende Gefühl nicht angenommen zu werden. Problematischerweise benötigt dies kontinuierlichen Input von außen, ohne Anerkennung anderer Menschen kollabiert das Selbstbewußtsein in das grundlegend vorhandene Gefühl abgelehnt zu werden. Eigenschaften (Ausbildungen, Medaillen, mile-stones, Facebook-likes, Pinterest shares, Anzahl verflossener Liebhaber, Arbeitsstunden, etc.) anzusammeln um den ansich schon kompletten Zustand des Sein scheinbar zu vervollständigen, im Wesentlichen um Anerkennung (auch und sehr wesentlich die Eigene) zu gewinnen und nicht mehr die Zurückweisung spüren zu müssen ist ein häufiger Nebeneffekt.
Heißt das Erfolg ist schlecht? Natürlich nicht. Aber Erfolg zur Selbstdefinition deutet auf eine grundlegende Verletzung in der Selbstwahrnehmung als selbständiges und verbundenes Wesen hin. Zu arbeiten um Erfolg zu haben (statt als Ausdruck der eigenen Kreativität) ist vermutlich ein guter Hinweis dazu.
Untreue
Warum sind Menschen untreu? Warum bestrafen viele von uns Untreue? Biologisch gesehen mach das Sinn in beschränkten Ressourcen, dabei ist jedes Kind (als Ergebnis der Untreue) eine Investition, und ein Organismus investiert üblicherweise lieber in seine eigenen Gene als in die der anderen.
Persönlich und auch im Gespräch mit verschiedenene Menschen empfinde ich Untreue aber als Zurückweisung, als Verlust von Sicherheit, als Abwendung eines Menschen von mir. Als zurückstoßen ins Alleinsein, in die Verlassenheit, Trennung von etwas über das ich mich definieren konnte. Es ist also nicht die Untreue die das Problem darstellt, sondern die Konsequenz sich nicht mehr geschützt zu fühlen. Insodern ist das Verlangen nach Treue nur ein Schutzmechanismus dagegen etwas fühlen zu müssen das grundlegend immer da ist: die schon gemachte Erfahrung von Alleinsein, Zurückweisung und Schutzlosigkeit. Ich sage das auch als Seelenpflaster für all diejenigen die wütend auf ehemalige oder gegenwärtige Partner sind, denn dieses Gefühl von Sicherheit (als Verbundenheit) kann man zwar in einer Beziehung haben, aber eine Trennung kann es einem nicht wirklich nehmen. Hat man das Gefühl der Zurückwesung bei Untreue hat es wohl überdeckt was schon vorher existierte.
Im Übrigen soll das nicht heißen daß gelebte Treue automatisch ein Zeichen von Sicherheits-Sucht ist. Lediglich das Verlangen nach Treue als Voraussetzung und Definition einer Beziehung könnte ein paar Fragen über den inneren Zustand aufwerfen, vor allem nach der Sicherheit in sich selbst.
Suche nach mehr Freiheit in Beziehungen
Passend zur Untreue, die Suche nach mehr Freiheit in Beziehungen, aufbauend auf dem Gefühl eingeengt zu sein. Gut möglich daß man wirklich eingeengt ist, etwa weil der Partner sein Bedürfnis nach Sicherheit durch Kontrolle abdecken möchte. Aber dann, aus eigener Erfahrung kann es sich auch nur um Angst vor Nähe handeln. Untreu zu sein oder Untreue zu suchen schützt vor Nähe. Der Wunsch untreu zu sein oder immer irgendwie dorthin gezogen zu werden drücken dann eigentlich Angst vor Nähe, und in einem zweiten Schritt eigentlich Angst vor Zurückweisung aus. Viele Zwiebelschalen.
Grausamkeit
Wie schon erwähnt meine ich, dass verschiedene Formen von Grausamkeit, zwanghaften Gedanken und auch Empathielosigkeit auf einer Bewußten oder viel wahrscheinlicher unbewußten Ebene vor dem Risiko einer neuerlichen Verletzung schützen.
Übertriebene Anteilnahme ist übrigens (neben invasiv) auch eine Methode sich selber Anerkennung und Zuweisung zu sichern und damit dem Gefühl einer erfahrenen Zurückweisung zu begegnen.
Gefühle von Minderwertigkeit
Im Fall von Minderwertigkeitsgefühlen ist der empfohlene Satz von Teal wieder sehr hilfreich. Wovor schützt es sich hilflos und unterlegen zu fühlen? Es schützt davor es zu versuchen, aufzustehen, das Risiko einzugehen zu scheitern. Und damit davor etwas nicht zu erreichen. In meiner Erfahrung schützten Gefühle von Minderwertigkeit und Unfähigkeit damit sehr direkt davor ausgelacht und zurückgewiesen zu werden, auch wenn der grundlegende Schmerz der Zurückweisung vermutlich viel älter ist.
Ich möchte damit die Empfehlung weitergeben bei als negativ erlebten Situationen und den damit einhergehenden Gedanken und Gefühlen schlicht zu fragen: "Wovor möchte mich dieser Gedanke, diese Emotion, diese so erlebte Situation schützen?". Und zu sehen ob im Kern der Zwiebel nicht vielleicht die Angst vor Zurückweisung steht.